Tiefgang für Ausgebrannte

Ayurveda HirschmuellerAyurveda Immer mehr junge Menschen reisen in die Ferne, um ihre leeren Akkus aufzufüllen. So wie Helen H. in Sri Lanka. Von Freddy Schissler, Augsburger Allgemeine Nachrichten, 11.09.2012

Das Öl auf der Stirn von Helen H. rinnt im Zeitlupentempo von links nach rechts. Dann wieder andersherum. Es kommt aus einer goldenen Schale, die eine Therapeutin ganz vorsichtig nach vorne kippt. Eine Millimeterarbeit, denn das Öl darf nicht in H.s Augen oder Ohren kommen. Shirodara nennt man diese Form einer Ayurveda-Behandlung – sie soll dem Gast in besonderem Maße innere Einkehr bescheren. H. genießt diesen Moment der Ruhe 8000 Kilometer fern der Heimat. Denn hinter der 31-jährigen Münchnerin liegt eine aufreibende Zeit, die ihr beinahe alle Kräfte raubte. Ausgebrannt, antriebs- und lustlos. Wer bei einer Ayurveda- Kur in jenem Land, in dem die Wurzeln dieser medizinischen Welt liegen, vor allem Menschen über 50 erwartet hat, wird überrascht. Immer mehr junge Frauen leiden an Energiemangel und hoffen auf ayurvedische Hilfe.

Willkommen im Paradies Sri Lanka? Nein, ein Paradies ist die Insel nicht. Zu viel ist geschehen: Erst die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen aufständischen Tamilen und Regierungstruppen mit Terror und Toten. Dann der Tsunami im Jahr 2004 mit seinen katastrophalen Folgen: 38 000 Tote, unzählige Obdachlose. Die Spuren der Verheerung sind bis heute sichtbar. Wie Mahnmale stehen Häuserruinen und schiefe Palmen in der Landschaft. Und dennoch wird gerade Sri Lanka von deutschen Urlaubern angesteuert, die mit ihren Kräften am Ende sind und Körper und Geist eine erholende Auszeit gönnen wollen.

Ayurveda heißt das Zauberwort vor allem für Frauen. Und der Altersdurchschnitt der
Gäste sinkt immer mehr. 30-jährige Frauen, die sich ausgebrannt fühlen, sind keine Seltenheit. „In Deutschland geht man ein hohes Tempo", weiß Janaka Buddhakorala, Manager des Ayurveda Hotels Maha Gedara in Beruwala, „dem müssen einige früh Tribut zollen." Helen H., 31, hat drei Wochen Auszeit im Maha Gedara gebucht. Sie sind dringend notwendig für sie, ihr innerer Akku ist seit knapp einem Jahr fast leer.

An diesem Morgen steht sie wieder auf, ohne dass sie einen Wecker stellen muss. Um 7 Uhr beginnt das morgendliche Joga. Nun ist die Münchnerin keine überzeugte Frühaufsteherin – zumindest nicht zu Hause. In Sri Lanka aber hat sie die Lust an den morgendlichen Übungen entdeckt. „Ich merke, wie mein Körper wacher und immer gelenkiger wird", sagt sie. Zum Beispiel beim Sonnengruß. Oder wenn sie die Beine zur Kerze in die Höhe streckt und anschließend hinter dem Kopf ablegt.

Nach dem Frühstück warten die Therapeutinnen auf Helen H.. Kopf-, Gesicht-, Hand- und Fußmassagen, gegen besonders verspannte Muskelpartien gibt es Synchronmassagen, bei denen zwei
Therapeutinnen gleichzeitig ihren Körper durchkneten. Es gilt das Prinzip: Frauen behandeln Frauen, Männer massieren Männer. Der Körper soll entgiftet und entschlackt werden, mit pflanzlichen Medikamenten, mit Nasen- und Stirnhöhlenbehandlungen, mit Kräuterdampfbad und Inhalation – und mit einer Darmreinigung. Die hat der 31-Jährigen zugesetzt. Einen Tag lang ist sie ein bisschen durch den Wind, der Magen rebelliert, die Knie wackeln. Danach allerdings geht es bergauf. Sie fühlt sich fitter als zuvor. Weshalb sie hier ist, mit gerade mal 31 Jahren? „Meine Energie schwindet seit einem Jahr immer mehr. Und ich habe zu nichts mehr Lust gehabt", gesteht Helen H.. Besuch im Kino? Am Wochenende in den Biergarten? Zum Wandern mit Freunden? Fehlanzeige. Helen H. zog sich mehr und mehr zurück. Für sie gab es nur noch Arbeit und Studium. Ihr Tag hätte mehr als 24 Stunden haben müssen. Zu keiner Herausforderung konnte sie Nein sagen.

Alles wird abgestimmt auf den Gast und seinen Körpertyp

Helen H. hat ihren Masterabschluss gemacht, das schon. Aber den Preis, den sie dafür zahlte, ist hoch: Ausgebrannt, mit knapp über dreißig. In Sri Lanka will sie wieder in die Spur kommen. Die Therapeutinnen helfen ihr – körperlich. Die Köche bieten jeden Tag mehrere Reisvariationen, gedünstetes Gemüse, Currygerichte und frisches Obst. Alles abgestimmt auf den Gast, der bei der ersten ärztlichen Visite nach der Ankunft einem bestimmten Körper-Typ zugeordnet wird, der fortan den Speiseplan bestimmt. Der Chefarzt gibt Helen außerdem Ratschläge für ihr künftiges Leben. Natürlich rät er ihr, das Tempo zu drosseln. Er macht ihr aber auch klar, wie wichtig Ernährung und Schlaf sind und ein intaktes soziales Netz. „Unsere Gäste sollen nach dem Aufenthalt bei uns sorgsamer mit ihrem Körper und Geist umgehen", erklärt Janaka Buddhakorala.

Wichtig für die Erholung, glaubt der Hotel- Manager, ist die Umgebung und die Atmosphäre des Resorts. Im Maha Gedara gibt es ein Biotop im Zentrum des Areals, Palmen, Sträucher, einen tropischer Garten, Ruhebänke, Wasseranlagen und natürlich den Blick aufs Meer. In den Ayurveda- Anlagen Sri Lankas ist der Tag von Ruhe und innerer Einkehr geprägt, Joga oder Meditation am Abend runden ihn ab. Die Uhren in einem Ayurveda-Resort gehen langsamer. Und es gibt pflanzliche Medikamente nach Frühstück und Abendessen. Energiespender sind dabei und Beruhigungsmittel für die Psyche.

Helen H. hat in den drei Wochen viel Kraft getankt. Gewiss, ihr Akku sei nicht vollkommen aufgeladen, sagt sie. Aber er funktioniere wieder: „Ich fliege mit einem guten Gefühl nach Hause." Auch deshalb, weil sie sich fest vorgenommen hat, auch im Beruf mal Nein zu sagen.